Volksstimme, Magdeburg 26/09/03 (ca. 4700 Zeichen) Kunst zur Tagung der Bildwissenschaftler an der Magdeburger Guericke-Universität Das digitale "Farbwunder" von Magdeburg und Spitzbergen Magdeburg - Immer wenn es dunkel wird, erscheint das "Farbwunder" an der neuen Bibliothek der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität. Zwischen den Säulen, hoch über den Köpfen der Besucher, wiegt sich die fünf mal sieben Meter große Leinwand leicht im Wind. Sie bildet die rätselhaften senkrechten Farbstreifen ab, die von einem Beamer auf diese Fläche projiziert werden. Das digital im Computer entstandene Bild wird 100 Tage lang zu sehen sein, am besten nach 20 Uhr, wenn es dunkel ist. Die nächsten fünf Tage auf der großen Leinwand, später dann auf einer etwas kleineren Variante im Inneren der Bibliothek. Das Bild wird sich jeden Tag um die Hälfte ändern. Es ist zur gleichen Zeit auch (über das Internet) auf einem Flachbildschirm in einer Forschungsstation auf Spitzbergen zu sehen. Die Station liegt im arktischen Ny Alesund, und es handelt sich dabei um die am nördlichsten gelegene ganzjährig bewohnte Siedlung der Welt. Autor dieser, dem Digital-Kunst-Laien auf den ersten Blick ein wenig skurril erscheinenden Standbildprojektion, ist der zu den Medienkünstlern zählende Newcomer Tim Otto Roth. Er setzt in Magdeburg ein Projekt fort, das er im vergangenen Jahr im Rahmenprogramm der documenta in Kassel begonnen hatte. Roth selbst empfindet seine Einordnung als Medienkünstler zu undeutlich, denn mit einem Medium gehe doch jede Kunst, auch die Malerei oder Plastik, um, sagte er im Gespräch mit der Volksstimme. Roth nennt sich "Praktiker der Imachination". Das Prinzip der Imachination liegt, so umreißen es Fachleute, im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine. Der Wortstamm setzt sich aus imagine und machine zusammen, was für eine Einheit von menschlicher Vorstellungskraft und Maschine steht. Im Zeitalter der Informationstechnologie ist der Computer die wichtigste Maschine. Die Präsentation des Rothschen Farb-Standbildes findet anlässlich einer internationalen Fachkonferenz an der Ottovon-Guericke-Universität in Magdeburg statt. Bis 28. September geht es dabei um "Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung". Die Experten diskutieren hier über die theoretischen Grundlagen des Umgangs mit digitalen Bildern. "Magdeburg steht für mich mit dieser Tagung sozusagen an vorderster Front der Bildwelt", hebt der Künstler im Gespräch hervor. Die Fachleute der Bildwissenschaft machen die Magdeburger Uni für einige Tage zu einem Mekka der Theoretiker des digitalen Bildes. Mit dieser herausgehobenen Stellung ist Magdeburg für Roth auch einer der beiden "Extrem-Punkte", an denen sein digitales Standbild gleichzeitig gezeigt wird. Das besondere von Spitzbergen liegt für den bildkünstlerischen Praktiker oder praktizierenden Bildkünstler in der extremen geografischen Lage. Die Forschungsstation ist der nördlichste Punkt des World Wide Web. Spielerischer Umgang mit Farben und Formen Mensch und Maschine lassen gigantische Entfernungen auf Null zusammenschmelzen, künstlerische Kreationen werden durch ihre digitale Struktur an extrem entfernten Punkten gleichzeitig erlebbar. Solche philosophischen Überlegungen zu seiner Projektion nimmt der Künstler, Jahrgang 1974, im Gespräch gelassen zur Kenntnis. Sie beschreiben aber längst nicht das ganze Ausmaß seiner Arbeit, so Roth zur Volksstimme. Die Kreativität dieser Aktion liege im Konzept. Er erklärt das am Beispiel der digitalen Vorgänge, die das Bild täglich zur Hälfte verändern werden. Diese Verwandlungen kommen durch Überlagerung zweier senkrechter Farbmuster zustande, denen eine Software, ein mathematisches Prinzip, zugrunde liegt, das auf der Zahl Pi beruht. Der Künstler setzt die digitalen Prozesse zwar in Gang, doch der detaillierte Verlauf wird dann durch, wenn man so will, chaotische Rechenoperationen im Computer bestimmt. "Ich weiß also nicht, welche neuen Muster entstehen, wie sich die Standbilder in den 100 Tagen ändern, welche Farbstrukturen entstehen und vergehen." Zum Magdeburger Projekt von Tim Otto Roth, er ist Träger des "Preises für digitale Fotografie, gehören schließlich auch Interviews mit den Fachwissenschaftlern der Uni-Tagung. Die Reaktionen und Interpretationen der Fachleute sind dann Teil der gesamten Arbeit. Digitale Bilder erscheinen so als philosophisches und künstlerisches Phänomen, das Laien und Experten herausfordert. Man sieht ein Werden und Wachsen von Bildern und Strukturen, man erlebt den spielerischen Umgang mit Farben und Figuren, das Vergnügen am kreativen Umgang mit der Welt. All das hat Tim Otto Roths digitale Bild-Aktion in Magdeburg und Spitzbergen wohl mit dem gemein, was die meisten Menschen heute (noch) unter Kunst verstehen. Von Jürgen Hengstmann