Lambert Wiesing - philososopher


"Dürer could have painted like Kandinsky -
in the history of pictures there were renewals which are not caused by technique"
(links for Lambert Wiesing)
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Was für einen Stellenwert nehmen Bilder für Sie beruflich ein?
images as media are the object of my reserach
Bilder sind der Gegenstand meiner beruflichen Forschungsarbeit. Ich versuche, in meiner Arbeit die Frage zu beantworten, was Bilder sind und insbesondere, was Bilder können, also welche Fähigkeiten wir diesem besonderen Medium – ich würde Bilder als Medien bezeichnen – zusprechen wollen.
Sie sind Philosoph. Bemerkenswert an Ihrem Ansatz ist, daß Sie Parallelen zwischen dem Denkprozeß und dem Bild ziehen.
I have doubts about images in the head In der Tat komme ich aus der Philosophie und ich habe den Eindruck, daß die Erforschung des Bildes als ein Phänomen – also die Erforschung der Bilder an sich, ich denke an die Forschung, in der es nicht um ein konkretes Bild geht – bisher am längsten in der Philosophie betrieben wurde. Jetzt möchte ich nicht beckmesserisch sein und sagen, daß diese Aufgabe nur in der Philosophie bearbeitet wurde; es gibt da auch sicherlich in der Kunstwissenschaft Traditionen. Aber die Frage, was wir überhaupt unter einem Bild verstehen wollen, also das kategoriale Problem, das ist eben eine Frage, die genuin philosophisch ist und dort schon sehr lange erörtert wurde, sicherlich bis Platon und Aristoteles zurückgehend.
Die von Ihnen angesprochene Parallele zwischen Bild und Denken sehe ich folgendermaßen: Ich wende mich strikt gegen jegliche Form von Verbildlichung von Gedanken, die im weitesten Sinne in der Tradition der antiken Eidolon-Theorien stehen. Also ich habe hohe Bedenken gegen die Rede von Bildern im Kopf. Das kann man umgangssprachlich verstehen, das sollte man dort auch nicht ändern, aber in wissenschaftlichen Kontexten möchte man natürlich diese Metaphorik aufgelöst sehen, da man durch diese Metaphorik sehr häufig an Grenzen kommt – nämlich immer dann, wenn man nachfragt: „Was ist denn genau mit einem Bild im Kopf gemeint?“Also diese Beschreibung von inneren Bildern ist mir sehr unsympathisch.
via images we can explore how a state of perception is structured Was ich stattdessen verfolge, ist der Gedanke – um eben diesen ontologischen Weg zu vermeiden –, daß sich eine Strukturaffinität zwischen Vorstellungen, also Bewußtseinsinhalten oder Daseinsformen von Menschen und Bildern beschreiben lässt und zwar sogar auf zwei Ebenen.
Das ist auf der einen Seite, daß die Infrastruktur von Bildern uns helfen kann, die Art und Weise, wie Personen, Menschen – wohlgemerkt leibliche Menschen – wahrnehmen. Das heißt, daß die Art und Weise, wie die Wahrnehmung eines Menschen empfunden wird, von Zuständen abhängig ist. Das ist ganz banal: Wenn man müde wird, hat man eine andere Art der Wahrnehmung, als wenn man in einem wachen, frischen Zustand ist. Es ist aber nicht so, daß der Mensch manchmal in einem Zustand und manchmal in keinem Zustand ist. Er ist immer in einem Zustand. Die Zustände wechseln nur, es gibt nur andere Zustände. Wir können unsere Zuständlichkeit, unsere Befindlichkeit würde Heidegger sagen, unsere Kreatürlichkeit, unsere Leiblichkeit – man kann da viele Begriffe nehmen, wir können sie nicht einmal ad acta legen und sagen: Jetzt bin ich das reine Wesen ganz ohne meine momentane Subjektivität. 
Diese besondere Art, wie ein Zustand eine Wahrnehmung strukturiert, die – so meine ich – lässt sich hervorragend durch Bilder erforschen. Bilder können uns zeigen, wie eine Wahrnehmung in sich aufgebaut ist. Das heißt also: Ich will überhaupt nicht sagen, daß eine Wahrnehmung ein inneres Bild erzeugt, das ist für mich ein bloß metaphorisches Reden. Mir geht es darum zu zeigen, daß Bilder uns helfen können, Strukturen, wie Wahrnehmungen konstituiert sind – sozusagen der innere Aufbau, die Modalität, das Format – zu veröffentlichen. Denn bei Bildern – und zwar nur bei Bildern – ist die Weise, wie sie etwas zeigen selbst sichtbar. Insofern scheint mir ein Bild immer ein sehr hilfreiches Erkenntnisinstrument zur Erforschung von Wahrnehmungsstrukturen zu sein.
Anfänglich hatte ich ja gesagt, daß die Verbindung von Bild und Denken bei mir an zwei Stellen eine Rolle spielt; dies wäre in etwa der erste Weg: Das Bild als Erkenntnisinstrument zur Erforschung der Wahrnehmung. Das sind Gedanken, die finde ich hervorragend bei Conrad Fiedler ausgearbeitet – er dürfte auch der Vater dieser Überlegungen sein. In beispielhafter Weise kann man hier auch Heinrich Wölfflin heranziehen – mit seiner berühmten These, daß die Darstellungsformen von Bildern auch Anschauungsformen sind. Man muß das nicht gleich so hegelianisch auslegen, wie es Wölfflin getan hat, daß es eine Chronologie, also eine bestimmte Entwicklung der Anschauungsformen gibt, aber im deskriptiven Sinne halte ich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe für sehr sinnvoll und unersetzbar.
digital simulation - a phenomenon in the tradition of thinking


simulation: snapshot of two colliding lead ions just after impact (CERN 2000)

Auf meinem zweiten Weg zur Beschreibung einer Verbindung von Denken und Bildern beziehe ich mich mehr auf digitale Bilder, also insbesondere auf Simulationen. Mir scheint die digitale Simulation ein Phänomen zu sein, welches sich in die Tradition des Gedankenexperiments stellen lässt. Das Gedankenexperiment ist eine Erkenntnismethode, die in den philosophischen Diskussionen gerne übergangen wird, wenn man mal von Ernst Mach absieht. Üblicherweise spielt das Gedankenexperiment bei Philosophen nicht so eine große Rolle; also in Erkenntnistheorien findet man relativ wenig zu Gedankenexperimenten. Das Eigenwillige ist ja, daß diese Formulierung „Gedankenexperiment“ so etwas wie ein Widerspruch in sich sein könnte. Normalerweise verbindet man mit Experimenten: „wir probieren etwas aus“ – und zwar in der Empirie; wir probieren aus, ob etwas funktioniert oder ob etwas nicht klappt. Das Wort „Experiment“ in der Formulierung „Gedankenexperiment“ steht dann für Empirismus und das Wort „Gedanke“ steht eben mehr für Rationalismus, für Argumentation. Denn im Gedankenexperiment probieren wir nichts richtig aus, wir gucken nur nach der Schlüssigkeit in den Gedanken. Man hat hier sozusagen eine Art Verbindung von Rationalismus und Empirismus, also von: Gedanke und Experiment. Diese Verbindung, die in philosophischen Theorien gerne übergangen wird, scheint mir nun in digitalen Simulationen eine vielleicht unerwartete, aber meiner Ansicht nach auch spektakuläre Verwirklichungsform zu bekommen. Das kann man ja ganz handgreiflich schon daran sehen, daß ein Großteil der Verhaltensweisen von Autos, die wir heutzutage fahren, nicht mehr real ausprobiert, sondern virtuell ausprobiert worden ist, eben in Simulationen. Es gibt ein Verhalten von Geräten, die wir nutzen, die gar nicht mehr empirisch ausprobiert worden sind. Da muß man sich fragen, „Woher wissen wir, daß die Dinge sich wirklich so verhalten werden?“, „Was ist das für ein Experiment gewesen, auf das wir uns ja doch verlassen wollen?“. Die Simulation war ja offensichtlich kein reales, empirisches Experiment, aber trotzdem war es ein Experiment. Ich denke, daß Simulationen diese Tradition des Gedankenexperiments in einer neuen Art und Weise umsetzen. Es sind Experimente, die wir mit virtuellen Gegenständen vollziehen. Das ist ja das Besondere beim virtuellen Gegenstand, daß er eine Verhaltensweise hat, so daß wir auf einmal an einem virtuellen Gegenstand in der Simulation Experimente vollziehen können. Ich glaube in der Tat, daß dies die Perspektive ist, die durch diese Gedankenexperimente oder durch Simulationen angesteuert ist – sicherlich steht diese Entwicklung jetzt noch am Anfang, aber wenn man schaut, wo das Ganze denn wohl mal hin geht, dann bekommt man den Eindruck, als wenn das Ziel eine Art Naturwissenschaft ohne Naturbeobachtung wäre und das ist ja eigentlich klassisch ein Paradoxon.
Gerade bei digitalen Bilder sprechen Sie davon, dass diese reine Sichtbarkeit darstellen können.
pure visibility is the essential quality of every image Eigentlich würde ich – wenn ich das sagen darf – mit dieser Wiedergabe meiner Position nicht so ganz zufrieden sein. Erstmal finde ich die Formulierung „reine Sichtbarkeit darstellen“ doppelt gemoppelt. Darstellung ist Erzeugung reiner Sichtbarkeit und zweitens halte ich die Rede von der reinen Sichtbarkeit für den Versuch, eine Eigenschaft zu bestimmen, die sich bei jedem Bild finden lässt, also nicht erst bei digitalen Bildern. Um es kurz zu erklären: Der Terminus „reine Sichtbarkeit“ ist ein Gegenbegriff zu „anhängender Sichtbarkeit“. Klassischerweise ist die Sichtbarkeit eine Eigenschaft – genauer gesagt: Disposition –, die wir Dingen zusprechen, die anwesend sind. Sie können jetzt hier den Tisch sehen, Sie können die Dinge sehen, die auch anwesend sind. Bei Hegel ist das sehr schön beschrieben. Er sagt, daß jeder Gegenstand „zum wahrhaften Auch erhoben ist“. Er meint damit, daß er immer für mehrere Sinne zugänglich ist. Wenn Sie etwas sehen können, können Sie es auch hören, auch riechen, auch fühlen. „Auch“ ist sozusagen das, was phänomenologisch die Kategorie der Substantialität substituiert, also an die Stelle der Substanzkategorie tritt. Bei Bildern haben wir nun das Phänomen, daß wir etwas sehen können, was wir aber nicht mehr riechen können, was wir nicht mehr anfassen, berühren können. Insofern würde ich erst einmal sagen, daß reine Sichtbarkeit die entscheidende, wesentliche Eigenschaft ist, welche nur bei Bildern zu finden ist. Nur in Bildern können wir etwas sehen, was nicht anwesend ist. Hätte der Mensch keine Bilder, wäre seine sichtbare Welt an die anwesende Welt gebunden, er würde sich immer in einer Welt bewegen, die er auch gleichzeitig fühlen, hören und riechen könnte. Deshalb würde ich sagen, alle Bilder haben das Phänomen der reinen Sichtbarkeit.

we don't use virtual images as semiotic medium but as medium of production

photography as a "machine for the isolation of visibility"

Allerdings glaube ich – und insofern war mit Ihrer Frage schon eine Richtung angedeutet, die ich in der Tat in meiner Arbeit verfolge –, daß die Frage dann im Raum steht: Was machen wir denn nun mit diesen reinen nur sichtbaren Objekten, die wir auf Bildern haben? Phänomenologen würden diese Objekte „Bildobjekte“ nennen, also das, was uns auf dem Bildträger, also der Leinwand, dem Monitor erscheint. Ich denke, daß wir in den digitalen Bildern eine Verwendung von diesen Bildobjekten der reinen Sichtbarkeit beobachten können, welche diese reine Sichtbarkeit wie einen Gegenstand verwendet. Ich wende mich dagegen, daß jede Nutzung des Bildes eine zeichenhafte Verwendung ist. Ich glaube – nicht nur und auch sicherlich nicht immer –, daß insbesondere digitale Medien sehr häufig dafür verwendet werden, Dinge herzustellen, die nur sichtbar sind. Das merkt man eben gerade bei virtuellen Realitäten. Dort geht es nicht um Verweis, um Referenz, um Bezugnahme, sondern um die Herstellung einer kuriosen Art von Gegenständen, einer neuen Art von Gegenständen. Deshalb spricht man ja auch vom „virtuellen Gegenstand“ oder „virtueller Realität“ und nicht vom „virtuellen Zeichen“ – also diese Terminologie halte ich für ganz treffend. Wir nutzen dort die Bilder oder das Bildmedium nicht als ein semiotisches Medium, sondern als ein Produktionsmedium. Der Fotoapparat ist eine „Sichtbarkeitsisoliermaschine“. Ich sehe die Bildmedien technisch als Geräte an, mit denen wir eine besondere Art von Objekt herstellen können. Diese Objekte kann man als Zeichen verwenden, muß sie aber nicht als Zeichen verwenden und ich glaube, gerade in der digitalen Welt werden sie sehr häufig auch gar nicht als Zeichen verwendet.
Wenn sich jetzt – und das machen Sie ja auch – der zeitgenössische Ästhetikbegriff auf Wahrnehmung bezieht, muß man auch das, was den Erscheinungen zugrunde liegt, in das Sichtfeld rücken. Nun auf digitale Bilder übertragen: Kann man numerische Bilder ohne deren kodifizierte Natur betrachten oder reicht für Sie die phänomenale Sicht auf die Oberfläche der Bilder?
phenomenal qualities are the base for the rest of applications Nein. Ich würde dort ein Fundierungsverhältnis beschreiben, und dann gibt es thematische Interessen. Ich interessiere mich für die phänomenale Sicht auf Bilder. Das ist sozusagen mein Forschungsgebiet, das ist der Aspekt des Bildes, an dem ich gerne ansetze. In der Tat mache ich mich dafür stark, zu zeigen, daß phänomenale Eigenschaften alle anderen Verwendungen von Bildern fundieren. Egal, was wir auch mit Bildern machen, zuerst muß dort etwas sichtbar sein und dann können wir mit diesem Sichtbargemachten etwas machen. Ich wäre der letzte, der die kodifizierten Verwendungen ignorieren, negieren oder leugnen wollte oder der sagen würde, daß eine phänomenologische Analyse alle Eigenschaften des Bildes beschreiben kann. Nein – allerdings glaube ich, daß die phänomenologische Perspektive das in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, was für Bilder wesentlich ist. Also die Sichtbarkeit des Bildes ist grundlegender als die Lesbarkeit des Bildes, und deshalb verstehe ich auch meine Arbeit als einen Beitrag zu Grundlagenforschung des Bildes.
Hat sich denn Ihr Vertrauensverhältnis zu Bildern verändert und inwiefern hängt das eventuell mit Bildentstehungsgründen zusammen?
I belong to the generation which knows no loss of trust by the digitalization, because I never had this trust Nein, mein Vertrauensverhältnis hat sich überhaupt nicht geändert. Ich halte auch die Frage insofern für ungünstig, weil sie sozusagen eine Meinung fortsetzt, die ich in der Tat für überholt halte. Wie häufig hört man jetzt: Man kann den Fotografien nicht mehr glauben und die digitale Fotografie ist zur Malerei geworden. Da fragt man sich in der Tat, gegen wen wendet sich diese richtige Feststellung, an wen richtet sie sich noch. Ich glaube, daß dieses Bewußtsein um die sogenannte Konstruktion der Bilder – und zwar aller Bilder – sehr verbreitet ist und daher gar nicht mehr ein Vertrauensverlust ist. Also ich gehöre jedenfalls einer Generation an, die durch die Digitalisierung keinen Vertrauensverlust erlitten hat, da ich dieses Vertrauen noch nie hatte.
Ich kann die Sinnhaftigkeit der Fragen vielleicht ein wenig erhellen: Gerade in den zahlreichen Gesprächen mit Naturwissenschaftlern fällt mir immer wieder auf, daß hinsichtlich des Vertrauensbezugs eine Unterscheidung zwischen privater und beruflicher Verwendung von Bildern gemacht wird.
not every visualization has to do with images


Mars Glows In X-Rays (Chandra 2003)

Aber vielleicht darf ich da ergänzen: Da müßte man auch sicherlich berücksichtigen, daß in dieser Debatte, wenn es jetzt um naturwissenschaftliche Kontexte geht, wir es sehr häufig mit Visualisierungsstrategien zu tun haben und das sollte man sicherlich noch mal differenzieren. Unter Visualisierung versteht man ja „etwas sichtbar machen.“ Aber nicht jede Form des Sichtbarmachens ist eine bildliche Struktur. Also wenn man ein Lackmuspapier in eine Säure hält und das Lackmuspapier sich verfärbt, dann ist dieses traditionelle Mittel sicherlich eine Form von Visualisierung, der Sichtbarmachung des PH-Wertes dieser Lösung. Trotzdem würde ich da noch keine bildlichen Strukturen sehen. Ich glaube, daß gerade heute diese Techniken der Visualisierung mit Techniken der Verbildlichung ineinander übergehen, und daß wir gerade in den Naturwissenschaften sehr viele Grenzphänomene haben. Ich denke da nicht zuletzt an die Astronomie, in der viele Phänomene der Sichtbarmachung zu finden sind, die überhaupt nicht mehr klassisch optisch arbeiten. Ich denke, daß die große Entwicklung in der Astronomie des 20. Jahrhunderts darin besteht, daß die astronomischen Phänomene nicht mehr nur optisch erforscht werden. Man kann im Groben sagen, daß wir bis Ende des 19. Jahrhunderts eine optische Astronomie hatten und dann fangen wir an, auch andere Phänomene zu visualisieren. Die Phänomene, mit denen wir es dann zu tun haben, sind häufig Grenzphänomene der Visualisierung, wo es jetzt gar nicht so darauf ankommt, ist es jetzt ein Bild oder nicht ein Bild. Das ist letztlich auch unwichtig, aber man sollte schon sehen, daß nicht jede Visualisierung auch eine Verbildlichung ist.
Ich möchte noch mal darauf zurückkommen, was denn bei digitalen Bilder tatsächlich passiert. Die Bildelemente digitaler Bilder, die mit Pixel abgekürzten picture elements sind ja eigentlich nur Farbwerte, denen bestimmte Koordinaten zugeordnet werden. Ähnliches gilt auch für Vektorbilder, d.h. ich habe es hier mit einer totalen Formalisierung nach mathematischen Kriterien zu tun. Da müßte sich ja eine formale Ästhetik freuen ....?
mathematics is also a kind of physicalization in the sense of causal processes which drive a monitor

Ja, das ist richtig. Allerdings glaube ich, daß die Absicht der traditionalen formalen Ästhetik darin besteht, daß sie sich mit formalen Mitteln an das Bildobjekt gewendet hat, also nicht an den Bildträger. Bei digitalen Bildern haben wir eine totale Formalisierung des Bildträgers, also dessen, was physikalisch anwesend ist. Das sind bei digitalen Bildern, die ja zumeist auf Monitoren gezeigt werden, eben die Pixel, die angesteuert werden. Es sind physikalische Gesetze und mathematische Gesetze, die dort eine Rolle spielen.
Die Bilder erscheinen schon noch, aber im Endeffekt habe ich ja nur ein Koordinatengefüge. Ich denke, daß das mehr mathematisch als physikalisch ist, da zum Beispiel bei Pixelbildern keine Skalierung existiert, es gibt ja nur noch eine Angabe von soundso viel Pixel mal Pixel. Wie es nachher erscheint, ob klein auf einem Mini-Monitor oder in einer riesengroßen Projektion, da ist die Physik eher nachgeschaltet.
Ja, da gebe ich Ihnen Recht. Worauf möchten Sie hinaus?
Wenn ein digitales Bild ein Bild wird, so muß der Code in ein physikalisches Etwas umgewandelt werden, damit ich es als Bild wahrnehmen kann, das ist mir klar. Aber das, womit der Rechner eigentlich arbeitet, sind ja nicht Bilder, sondern er arbeitet eben mit totalen Formalisierungen, Codes.
a computer remains a physical object which underlies causal rules


mosaic stones are predecessor of the pixel

Wenn es darum geht, uns schnell etwas verständlich zu machen, halte ich diese Sätze für überzeugend. Wenn wir jetzt aber als Wissenschaftler das goutieren oder bewerten wollen, dann würde ich fragen: „Arbeitet der Rechner wirklich mit Mathematik?“ „Der Rechner arbeitet?“ Wenn man dies bejaht, würde man so tun, als wenn der Rechner ein Subjekt wäre, welches Mathematik verwendet. Also für mich ist der Rechner erst einmal eine Maschine, und Maschinen verhalten sich nach physikalischen Regeln. Ein noch so komplexer Computer verhält sich für mich durch und durch nach physikalischen Regeln. Man kann physikalische Abläufe so konstruieren, daß ihnen mathematische Strukturen implementiert sind, also d.h. für einen Betrachter erscheint es so, als wenn er sich nach mathematischen Strukturen – sprich nach Algorithmen – verhält. Aber der Computer bleibt ein physikalisches Etwas, was sich ausschließlich kausal verhält. Insofern gehört der Computer im weitesten Sinne auch zu dem, was wir in den Bildwissenschaften das physische Bild, den Bildträger, die Hardware nennen – also in der Tradition dessen, was vorher Leinwand oder Ölfarbe oder ähnliches, Mosaiksteinchen, gewesen wäre. Mosaiksteinchen sind in diesem Zusammenhang übrigens sehr wichtig, da sie meiner Ansicht nach sicherlich ein Vorläufer des Pixelbildes darstellen. Da haben wir ja auch schon die Pixelstrukturen. Die anfängliche Frage war aber: Wo setzt die Formalisierung an? Das, was man formale Ästhetik nennt, beschäftigt sich mit der Formalisierung dessen, was man auf Bildern sehen kann, nicht mit der Formalisierung der Hardware. Insofern haben wir hier zwei verschiedene formale Ebenen, die man thematisieren kann. Da würde ich das einfach differenzieren.
Da muß ich schon noch eine Frage diesbezüglich nachschieben. Ich zitiere Sie mal: „Die philosophische Ästhetik wirkt auf die Produktion von Bildern ein, indem die die Begrifflichkeiten schafft, mit denen neue Bilder denkbar werden.“ Das ist eben das, was Sie vorher auch schon nannten. Ich frage jetzt auch provokativ, ob heute nicht die Mathematik zunehmend durch diese Formalisierung zu dem wird, was neue Bildlichkeit eben denkbar werden läßt?
In the history of pictures there were renewals which are not caused by technique


comics and abstract images are no technical invention

philosophy and mathematics are both non-emperical disciplines

Ja, das stimmt, das überzeugt mich jetzt sozusagen während des Interviews. Den Gedanken, den ich in dem Zitat, das Sie gerade erwähnt haben, vor Augen hatte, war folgender: Ich meine, es gibt zwei – mindestens zwei – große Phänomene in der Entwicklung des Bildes, die wir eigentlich nicht materiell erklären können. Das ist einmal zum Beispiel das abstrakte Bild. Es gibt für die Entstehung des abstrakten Bildes überhaupt keinen technischen Grund. Dürer hätte genauso malen können wie Kandinsky. Technisch wäre das möglich gewesen, in der Antike hätte man schon so malen können. Es gibt keine Erfindung, die notwendig war, damit man auf einmal abstrakte Kunst schaffen kann. Nichts ist da technisch erfunden worden. Das zweite Phänomen – übrigens fast zeitgleich – wäre der Comic. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum man nicht schon im Mittelalter Comics gezeichnet hätte. Nehmen Sie ein Mickey Maus Heft oder ein Hergé–Werk, die wären technisch schon im Mittelalter und auch in der Antike möglich gewesen.
Diese beiden Beispiele hatte ich bei dem Zitat im Hinterkopf. An ihnen sieht man, daß es in der Bildgeschichte Erneuerungen gibt, die nicht technischer Art sind. Ja, aber wo kommen die nun dann her? Wenn man nicht den Weg geht, daß sie vom Himmel gefallen sind, dann muß es ja irgendwelche Gründe geben, warum auf einmal im 20. Jahrhundert neue Bilder entstehen, die nicht technisch bedingt sind. Und dann bleibt ja eigentlich nicht viel anderes übrig, als sich an die Geistesgeschichte zu wenden. Ich gebe Ihnen recht, an der zitierten Stelle habe ich die Geistesgeschichte sehr stark mit Philosophie gleichgesetzt. Wenn Sie mir jetzt den Hinweis geben, ob das nicht vielleicht eine Einengung wäre und ob nicht am Ende des 20. Jahrhunderts, also sprich jetzt, in der Gegenwart, diese Geistesgeschichte, welche neue Nutzungsformen der Medien ermöglicht, im hohen Maße von Mathematik mitbestimmt wird, dann finde ich das einen sehr überzeugenden Ergänzungsgedanken. Philosophie ist an der Stelle nicht im Sinne einer Disziplin gemeint gewesen, sondern steht für das, was man vielleicht philosophische Fakultät nennt. Die Mathematik war auch lange in der philosophischen Fakultät. Das wäre ja auch das Verbindende: Die Mathematik und die Philosophie sind beides nichtempirische Disziplinen. Aber den Hinweis finde ich sehr überzeugend, ob nicht vielleicht heute diese sozusagen nichtempirischen Initialzündungen für Bildverwendungen gar nicht mehr vorrangig aus der Philosophie, sondern der Mathematik kommen. Den Hinweis werde ich berücksichtigen.
Sie erwähnten am Rande schon den Pixel als vorweggenommen im Mosaik. Das Ornament, das gleichfalls oft aus Mosaiksteinchen hergestellt wird, bezeichnen Sie aber nicht als Bild.
computer images are mosaics, where each of the elements can be driven and changed Mosaik ist eine bestimmte Bildtechnik und Sie haben vollkommen recht, daß man sagen sollte: Das ist nicht einfach nur eine Bildtechnik, sondern es ist eine bestimmte Oberflächenherstellungstechnik. Man kann ja auch aus Mosaiken Ornamente machen. Aber keineswegs ist es so, daß jedes Ornament aus Mosaiken besteht. Den Unterschied zwischen einem Ornament und einem Bild würde ich so bestimmen wollen, daß bei einem Ornament, wenn sein Aussehen beschrieben wird, nicht etwas beschrieben wird, was nicht auch materiell anwesend ist. Es geht ganz einfach um die Aussagen, wie beschreiben wir das, was wir zu sehen meinen. Bei Ornamenten würde man bei der Beschreibung ihres Aussehens über das reden, was auch vorhanden ist. Man würde zum Beispiel sagen: Hier haben wir einen symmetrischen Aufbau. Was ist dann symmetrisch? Dann meinen Sie zwei Linien, die auch wirklich materiell vorhanden sind, oder wir sagen, hier haben wir einen Laufenden Hund, also dieses klassische, aus der Antike stammende Ornament. Die Linien, die den Laufenden Hund bilden, sind kein Bild eines laufenden Hundes. Die Bildlichkeit kommt immer dann ins Spiel, wenn dem Betrachter etwas erscheint, was eben auf der materiellen Ebene nicht mehr vorhanden ist. Wenn man von einem Bild eines laufenden Hundes sprechen würde, würde man einen Hund zu sehen meinen, der läuft und nicht ein Ornament, das nur aus Linien besteht. Mit Mosaiken kann man nun beides erstellen: Ornamente und Bilder. Für die Bildwissenschaft sind sie so spannend, weil sie das Bild durch Farbpunkte generieren, also schon etwas machen, was wir auch im digitalen Bild nutzen. Der Unterschied ist sozusagen, daß wir beim Mosaik die Punkte alle von Hand hinlegen. Hingegen das Computerbild ist ein Mosaik, bei dem jedes Mosaiksteinchen ferngesteuert wird und ohne materiellen Aufwand gewechselt werden kann.
Wobei beim Ornament auch geometrische Algorithmen mit im Spiel sind...
Das Ornament ist sicherlich ein Phänomen, welches man in hohem Maße mathematisch berechnen kann. Nicht alle Ornamente, aber es gibt Ornamente, bei denen dies der Fall ist, die also algorithmische Strukturen verwirklichen und das ist etwas, das wir auch bei den Grundlagen zu digitalen Bildern haben.
Um jetzt noch einmal auf die zwei Ebenen zurückzukommen. Für die Phänomenologie ist es doch wohl trotzdem eine Herausforderung, daß digitale Bilder auf der Code-Ebene sich der phänomenalen Wahrnehmbarkeit entziehen?
an image always shows a double visibility of a material surface and the apparition Selbstverständlich gibt es bei jedem materiellen Bild – und wir reden bisher nur über materielle Bilder – eine materielle Ebene, die auch sichtbar ist. Sie können sich halt auch den Monitor anschauen; Sie können sich auch die Pixelstruktur auf dem Monitor anschauen, Sie brauchen bloß eine Lupe zu nehmen, dann sehen Sie jedes Pixel. Und so kann man sich auch bei jedem traditionellen Tafelbild die Leinwand anschauen. Jedes Bild besteht immer aus einer doppelten Sichtbarkeit, sowohl der Bildträger ist sichtbar wie auch etwas Erscheinendes. Das ist allerdings nur die erste grobe Beschreibung der besonderen Sichtbarkeit des Bildes. Welche genauen Verhältnisse zwischen dieser doppelten Sichtbarkeit bestehen, sind Themen eingehender Studien. Nicht zuletzt Husserl hat in diesem Zusammenhang Widerstreitverhältnisse beschrieben. Die besondere Art und Weise, wie wir auf Bildern etwas sehen, hängt in der Tat damit zusammen, daß die Materialität des Bildes weiterhin sichtbar bleibt – auch dann noch, wenn man auf das Bildobjekt achtet; dies erzeugt einen Widerstreit. Wäre das nämlich nicht der Fall, würden Sie etwas sehen, das Sie für real halten, was nun wirklich bei Bildern nicht der Fall ist. Kurzum: Den Bildträger kann man sehen, was man nicht sehen kann, sind die Algorithmen, die das Aussehen dieses Bildträgers, eben die Pixel steuern; die sind unsichtbar.
Ich glaube wir sprechen über digitale Bilder meist nur aus der Sicht der Anwenderebene. Die Frage ist, wie sieht das Bild aus der Ebene des Mathematikers und vor allem des Informatikers aus, die an der Schnittstelle sitzen und maßgeblich mit Algorithmen arbeiten. Ich bin mir nicht sicher, wie das aus phänomenologischer Sicht aussieht, ob da überhaupt eine phänomenologische Betrachtung möglich ist.

cookery book for images: information science does not create images, it gives only instructions
Das ist so ähnlich wie bei einem Kochbuch. Ich halte es für ganz abwegig, wenn ein Koch – nehmen Sie Bocuse – ein Kochbuch schreibt, zu sagen, daß er in dem Moment, in dem er ein Kochbuch schreibt, am Kochen sei. Ein Kochbuch ist eine Gebrauchsanweisung, um ein Essen herzustellen. Das, was Informatiker machen, sind in hohem Maße ausgeklügelte Algorithmen, Gebrauchsanweisungen, um Bilder herzustellen. Aber sie stellen keine Bilder her. Das Schreiben von Gebrauchsanweisungen ist nicht das gleiche wie das Produkt. Gebrauchsanweisungen haben andere Eigenschaften als die Dinge, deren Herstellung sie beschreiben. Bei Kochbüchern käme kein Mensch auf die Idee, ein Kochbuch als ein Essen zu behandeln. Auf dieser Ebene verwechseln wir das nie. Ein Kochbuch ist eine Gebrauchsanweisung, eine Anleitung, wie man ein Essen herstellen kann, und Informatik befaßt sich mit Anleitungen – sie verwenden dann meistens das Fremdwort „Algorithmus“, aber Algorithmus ist das gleiche wie eine Anleitung – zur Herstellung von Bildern. Aber sie stellen keine Bilder her.
Aber sie bestimmen maßgeblich natürlich das, was hinterher als Bildlichkeit zu sehen ist.
the phenomenologist is not interested in the cookery book Ja, ganz genau: Wie es auch bei Kochbüchern der Fall ist. Auch Kochbücher bestimmen, wie das Essen sein wird. Aber der Phänomenologe, der sich zum Beispiel mit dem Geschmack eines Essens auseinandersetzt – stellen Sie sich vor, Sie wollen ein bestimmtes Menü beschreiben, wie es auf Sie wirkt, was für Sinnesqualitäten es erzeugt –, der käme niemals auf die Idee, sich dafür das Kochbuch anzuschauen.
Sie zitieren Buffon:„Der Stil ist der Mensch selbst.“ Beim digitalen Bild habe ich nun ein gegenseitiges Ineinanderwirken von Mensch und Maschine, meist sogar von ganz vielen Menschen mit Maschinen. Die Frage ist, ob sich da nicht ein völlig neuer Stil herausbildet?

Kittler is the friend of all this cookery books

Diese Identität von Stil und Mensch selbst betrifft den Gedanken, wie wir einen wesentlichen Zug von etwas beschreiben können. Buffon ist insofern schon protophänomenologisch, als er den Hinweis gibt, daß beim Menschen – er bezieht seine Aussage übrigens in erster Linie auf den Menschen und nicht auf alle Gegenstände – seine wesentliche Eigenheit in der Äußerlichkeit, in seinem stilistischen Auftreten zu suchen ist. Etwas Äußerliches wird zum Wesentlichen, so daß die klassische Dichotomie, es gebe etwas Inneres und etwas Äußeres, unterwandert wird. Man nimmt den Stil nicht nur als Ausdruck einer Eigentlichkeit, sondern diese Eigentlichkeit wird gekürzt und man erkennt in dem Ausdruck gar keinen Ausdruck von etwas Verborgenem, sondern Phänomene, die das sind, was sie sind. Das paßt nun sehr gut zu bestimmten phänomenologischen Ansichten, die eben auch versuchen, die Phänomene nicht auf etwas zurückzuführen. „Alle Erklärung muß fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“ – das ist das, was Wittgenstein gesagt hat, und das ist der Leitgedanke aller Phänomenologen. Man nimmt eben das, was man sieht, nicht als ein Epiphänomen von etwas Dahinterliegendem, sondern man nimmt es als das, was es ist – und genau dieser Gedanke ist eigentlich bei Buffon schon sehr klar vorhanden. Man kann dieses nun bemerkenswerter Weise bei digitalen Bildern genauso sehen. Der Phänomenologe würde eben digitale Bilder nicht so beschreiben, daß er beschreibt, was unsichtbar dahinter steht; er würde sich nicht das Rezeptbuch anschauen, sondern die Phänomene selbst. Aber ich will nicht verheimlichen, daß es genügend andere Bildtheoretiker gibt – fragen Sie nur jemandem aus dem Kittler-Umfeld – die Ihnen sagen: Nein, Sie müssen sich nur die Rezeptbücher anschauen.Friedrich Kittler ist ja sozusagen der Freund aller Kochbücher.
Was mich noch wundert ist, das Primat in der ästhetischen Diskussion sind vornehmlich Kunstbilder – ganz zuforderst die Malerei –, aber auch Alltagsbilder. Greift die Auseinandersetzung mit Alltagsbildern insbesondere aber mit Kunst, in Gestalt einer Kunst als Kritik des Sehens, nicht ein bißchen zu kurz, wenn man naturwissenschaftliche Sichtweisen, die maßgeblich auch zeitgenössische Sichtweisen sind, außen vor läßt?

Da gebe ich Ihnen recht. Der entscheidende Schritt zur Entstehung der Bildwissenschaften bestand darin, daß man sich vom klassischen Kunstwerk her hin zum Alltagsbild erweitert hat. Jetzt ist es, um dem Anspruch der Bildwissenschaft gerecht zu werden, sicherlich auch notwendig, sich nicht nur dem Banalen zuzuwenden, sondern auch dem Naturbild, was in naturwissenschaftlichen Kontexten eine Rolle spielt. Das finde ich überzeugend. Gerade habe ich ein Hauptseminar, in dem ich mich stark mit Kartographie, also mit Kartenkunde und den Navigationssystemen beschäftige, in dem es also auch um ein naturwissenschaftlich geprägtes Bild geht.
Eine ganz andere Frage zum langsamen Ausklingen: Wenn Bilder abstrakt werden, dann bekommen sie oft musikalische Züge in einem asemantischen Sinne. Wie sehen Sie da das Verhältnis von Bild und Musik?

not all flat objects at the wall are pictures





Traces of Pollock's hands, detail from:
Title Number 1A, 1948
Oil and Enamel on Canvas



concrete art shows objects and not pictures

In der Tat kann man viele Formen der abstrakten Kunst – wohlgemerkt viele, nicht alle – als eine Art musikalischen Umgang mit Bildern beschreiben. Das ist ja auch in Künstlerprogrammen nachweisbar; es geht in diesen häufig um eine Musifizierung des Bildes. Diese Formulierungen findet man häufig und sie entspricht dem Gedanken, daß man in jeder Kunstrichtung etwas der Musik Analoges macht, wobei man unter Musik dann etwas nicht Referenzielles versteht. Das ist sicherlich richtig.
Bildtheoretisch halte ich es allerdings für ausgesprochen wichtig, darauf zu achten, daß es nicht zu der Einengung kommt, alle Formen der abstrakten Kunst als Bilder zu behandeln. Das ist eine Gefahr, die ich in kunsthistorischen Studien sehr häufig beobachte, daß schlicht und ergreifend alles, was flach ist und an der Wand hängt, als Bild bezeichnet wird. Ich glaube, daß damit auch dem Anspruch vieler Künstler unrecht getan wird. Mir erscheint das 2l. Jahrhundert oder die Kunst des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt von dem Bemühen beherrscht, auch nichtbildliche Kunstformen zu finden. Man muß sich auch einmal vor Augen halten, was für ein normatives Verständnis man hätte, wenn man sagen würde, alles, was ein Künstler macht, muß ein Bild sein. Jetzt würden Sie sagen, natürlich nicht: Der Literat muß kein Bild machen, der Musiker muß kein Bilder machen. Aber ich meine auch: Was für ein normatives Verständnis hat man, wenn alles, was ein bildender Künstler macht, ein Bild sein muß? Mir erscheint vieles in der Kunst des 20. Jahrhunderts als ein Versuch, sozusagen Kunstformen zu erobern – zu experimentieren, zu erforschen –, die vielleicht keinen bildlichen Status haben. Es ist daher ausgesprochen wichtig, daß gerade Kunsthistoriker wie Bildwissenschaftler darauf achten, daß sie in ihren Kategorien nicht diese pluralistischen Bemühungen durch grobe Kategorien wieder zunichte machen, indem sie alles, was flach ist und an der Wand hängt, als Bild bezeichnen.
Kommen wir auf die abstrakte Kunst zu sprechen. Ich finde, gerade die Besonderheit der abstrakten Kunst kann man sehr häufig gut erfassen, wenn man auch sieht, daß es auch abstrakte Kunst gibt, deren Besonderheit vielleicht gerade dadurch gegeben ist, daß sie eben keinen Bildstatus hat. Nehmen wir vielleicht einmal Jackson Pollock, bei dessen Werk sich mit der Kategorie der Spur arbeiten lässt. Nun kann man darüber diskutieren, wie sich Spuren zu Bildern verhalten. Aber auf keinen Fall ist es sinnvoll, jede Kunstform gleich unter dem Bildbegriff zu subsumieren. Oder nehmen wir – hiermit habe ich mich selbst viel beschäftigt – einen Vertreter der monochromen Malerei, die ja nicht umsonst „Malerei“ heißt. Auch hier gilt es zu beachten, daß man den Terminus „Malerei“ nicht wieder vorschnell als ein Synonym für „Bildproduktion“ verwendet. Nicht jedes monochrome Kunstwerk muß ein Bild sein. Oder denken wir nur einmal an den Terminus „Konkrete Kunst“, ein sehr verbreiteter Begriff. Was heißt hier „konkret“? Konkret ist unter anderem ein Gegenbegriff zu „Bild“. Denn Bilder sind keine konkreten Gegenstände; sie zeigen etwas, was nicht konkret anwesend ist. Konkrete Kunst wollte Objektkunst sein, das heißt wollte zeigen, daß man auch dem Objekt, dem Gegenstand, dem nichtbildlichen Gegenstand einen Kunststatus verleihen kann. Deshalb erscheint es mir ganz abwegig, wenn man zum Beispiel bestimmte Phänomene der Konkreten Kunst oder der Objektkunst unter dem Bildbegriff subsumiert. Wenn wir diese Grundlagenentscheidung erst einmal berücksichtigen, dann wird es natürlich spannend, der Frage nachzugehen, welche Bildformen abstrakt sein können oder welche Kunstwerke, die abstrakt sind, wir auch als Bilder beschreiben können.
Zum Schluß noch ein paar Fragen zum Verständnis der bildwissenschaftlichen Debatte. Was mich bei der oberflächlichen Betrachtung eigentlich wundert, ist, warum diese Debatte für eine wissenschaftliche Debatte doch immer so sehr emotional einfach geführt wird und mitunter auch mit so viel Polemik auch ausgetragen wird?
Das ist sicherlich eine richtige Feststellung. Ob dies nur in den Bildwissenschaften so ist, kann ich nicht beurteilen. Ich gehe mal davon aus, daß immer dann, wenn Menschen viel Energie in eine Sache stecken – das tun ja Wissenschaftler meistens –, sehr schnell eine emotionale oder auch polemische Debatte entsteht. Ich würde mal vom Gefühl her sagen, das finden Sie in jeder Wissenschaft. Was allerdings bei den Bildwissenschaftlern hinzukommt, ist, daß die disziplinären Strukturen noch nicht eindeutig bestimmt sind. Es ist noch nicht geklärt, welchen institutionellen Status die Bildwissenschaft bekommen soll, ob sie zu einer der etablierten Disziplinen gehört. Da ständen ja verschiedene zur Auswahl, sicherlich die Philosophie oder die Kunstgeschichte oder vielleicht bei den neueren Disziplinen die Medienwissenschaft – das wären alles mögliche Disziplinen, die eine Bildwissenschaft in sich aufnehmen könnten. Es gibt aber auch Vertreter, die den Anspruch erheben, der Bildwissenschaft einen ganz neuen Status zuzusprechen. Das würde bedeuten, daß hier eine neue Disziplin begründet wird. Solange diese institutionellen Fragen noch nicht geklärt sind, besteht natürlich die Gefahr einer polemischen Debatte, weil man bestimmte Funde retten möchte. Das ist sicherlich im Moment zu beobachten.
Abschließende Frage: Was ist Ihr Lieblingsbild, das Sie zu Hause hängen haben?
Eine Panelreihe von Hugo Pratt.
interview by Tim Otto Roth from 26 April 2004 at Institute of Media Aesthetics/ University of Jena
Links for Lambert Wiesing:
Prof. Dr. Lambert Wiesing/ Friedrich-Schiller-Universität Jena
Prof. Dr. Lambert Wiesing, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik e.V.
Sind Photogramme Bilder? Abstract eines Symposiumsvortrag, ZKM Karlsruhe April 2006

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